Eine kürzlich veröffentlichte Studie plädiert für die Anhebung der Mindestmenge in Perinatalzentren bei der Behandlung von sehr kleinen Frühchen. Das hätte gleichzeitig Vor- und Nachteile für die betroffenen Eltern. Eine Bestandsaufnahme.

Anna fängt gerade an, frei zu stehen. Die 10 Kilo Körpergewicht werden mal geschickt von ihr balanciert, mal landet sie mit einem Quietschen auf dem Windelpopo. Ihre Eltern, Stefanie und Matthias, begleiten Anna liebevoll bei ihren ersten Steh- und Gehversuchen. Der Eltern-Alltag hat sie voll im Griff. Deshalb denken sie heute kaum noch an Annas Start ins Leben zurück. Ihre Tochter war bei der Geburt nämlich gerade einmal 38,5 cm groß und wog 990 Gramm.

Stefanie war in der 27. Schwangerschaftswoche, als bei einem Kontrolltermin das erste Mal Auffälligkeiten festgestellt wurden. Die Gynäkologin schickt sie zur Abklärung weiter ins Krankenhaus, dort werden ein paar Untersuchungen gemacht. Die Ärzte sagen, es könnte sein dass Anna früher geholt werden muss, aber eine eindeutige Aussage sei noch nicht zu treffen. Man wolle die weitere Entwicklung abwarten und beobachten.

Erwarten werdende Eltern ein kleines Frühgeborenes (mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1500 Gramm), sollte es idealerweise in einem sogenannten Perinatalzentrum geboren und behandelt werden. Diese Zentren unterscheiden sich im Grad ihrer Spezialisierung (Personal und Ausstattung). Sie werden in vier Versorgungsstufen eingeteilt:

  • 1. Versorgungsstufe: Perinatalzentrum Level 1 (Maximalversorgung)
  • 2. Versorgungsstufe: Perinatalzentrum Level 2
  • 3. Versorgungsstufe: Krankenhaus mit perinatalem Schwerpunkt
  • 4. Versorgungsstufe: Geburtsklinik

Perinatalzentren der Maximalversorgung (Level 1) dürfen sehr kleine Frühgeborene (mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm oder Gestationsalter < 29+0 SSW) regelhaft behandeln. Bundesweit gibt es 163 Perinatalzentren der 1. Versorgungsstufe, wovon jedes durchschnittlich eine Fläche von knapp 2200 Quadratkilometern versorgt. Das entspricht einem Radius (und damit maximalen Anfahrtsweg) von 47 Kilometern.

Das Krankenhaus, in dem Stefanie stationär aufgenommen wurde, ist ein Perinatalzentrum Level 1. Es liegt zwölf Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Probleme in der Schwangerschaft hatte sie bisher keine. Bei den Kontrolluntersuchungen war der Blutdruck immer etwas zu hoch, aber vor einem Arzttermin ist doch jeder aufgeregt und schließlich liegt die Praxis im dritten Stock. “Ich habe das damals alles gar nicht so ernst genommen”, sagt Stefanie.

Zweimal am Tag wird im Krankenhaus ein CTG geschrieben, alle zwei Tage ein Ultraschall durchgeführt. Stefanie hat ein leichtes Druckgefühl im Oberbauch und den erhöhten Blutdruck, ansonsten geht es ihr gut. Nach wenigen Tagen entlässt sie sich selbst und vereinbart mit ihrer Frauenärztin, die Untersuchungen in ihrer Praxis durchzuführen. In der 28. SSW muss Stefanie erneut ins Krankenhaus, die dortigen Ärzte können die Messungen exakter durchführen. An diesem Tag wird auf Empfehlung die Lungenreife verabreicht. Zwei Tage später wird Anna per Kaiserschnitt geboren.

Im Oktober 2020 wurde von der Fachzeitschrift “Geburtshilfe und Neonatologie” eine groß angelegte Studie eines deutschen Autorenteams zur Mindestmengenregelung in Krankenhäusern bei der Behandlung von Frühchen veröffentlicht. Darin kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Überlebenschancen für sehr kleine Frühchen in Perinatalzentren am besten ist, die jährlich zwischen 50 und 60 solcher Kinder versorgen. Derzeit ist das nur in einem Viertel der Level 1-Perinatalzentren in Deutschland der Fall.

Die Analyse beruht auf den tatsächlich gemeldeten Ergebnisdaten aller deutschen Perinatalzentren und ist damit repräsentativ für Deutschland. Sie belegt nachweislich einen Zusammenhang zwischen den Fallzahlen und der Ergebnisqualität. Bislang gab es keine Berechnungen dazu, ab welchem Schwellenwert optimale Behandlungsergebnisse zu erwarten sind.

Aus einer Facebook-Gruppe zum Austausch anderer Frühchen-Eltern wissen die beiden, dass nicht jedes Krankenhaus gleich mit Frühchen und deren Familien umgeht. “Anderswo wird das Stillen von Frühchen nicht unterstützt. Oder es wird gesagt, die Kleinen merken eh nicht ob jemand da ist. Gekuschelt werden darf dann nur durch den Inkubator hindurch”, erinnert sich Stefanie. Annas Eltern haben jeden Tag stundenlang mit ihr gekuschelt. Das Krankenhauspersonal hat sogar eine Liege in Annas Zimmer aufgestellt.

Dass der Umgang in deutschen Perinatalzentren so unterschiedlich ist, liegt unter anderem an deren Erfahrungsschatz mit Frühgeburten. Seit 2010 gilt gesetzlich eine Mindestmenge (siehe Infokasten) von 14 Fällen pro Jahr und Klinik für ein Perinatalzentrum Level 1. Das bedeutet also, dass durchschnittlich ein bis zwei sehr kleine Frühgeborene pro Monat geboren und behandelt werden müssen, damit sich eine Klinik derzeit als Perinatalzentrum bezeichnen darf. Den Studienergebnissen zufolge ist die bestmögliche Versorgung für Mutter und Kind dann gewährleistet, wenn mindestens ein Fall pro Woche behandelt wird. Deshalb fordern die Wissenschaftler eine schrittweise Anhebung der Mindestmenge auf 50 bis 60 Fälle pro Jahr.

Derzeit berät sich der Gemeinsame Bundesausschuss über eine Anhebung der Mindestmenge. Schon 2010 hob der G-BA die Mindestmenge auf 30 Fälle pro Jahr und Klinik an, jedoch klagten daraufhin mehrere Kliniken und bekamen Recht vor dem Bundessozialgericht. Die Begründung: Es gebe keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage für die Erhöhung. In der vorliegenden Studie wurden deshalb die Behandlungsergebnisse aller Frühgeborenen aus deutschen Perinatalzentren von 2010 bis 2018 untersucht.

 

Die Mindestmengenregelung legt ein Mindestmaß an Erfahrung für komplexe Operationen und Behandlungen in einem Krankenhaus vor. Demnach muss eine Klinik einen Eingriff oder eine Therapie mindestens so oft wie vorgeschrieben durchführen, um die Behandlung anbieten zu dürfen (und von der Krankenkasse erstattet zu bekommen).

Anna blieb fünf Wochen auf der Neonatologie in ihrer Geburtsklinik. Als sie über 1500 Gramm wog, wurde sie in ein anderes Perinatalzentrum verlegt. Nun betrug der Fahrtweg 31 statt zwölf Kilometer – für Stefanie, die ungern Auto fährt und zum damaligen Zeitpunkt noch Schmerzen vom Kaiserschnitt hatte, ein weiter Weg. Trotzdem ist sie jeden Tag von zehn bis fünf im Krankenhaus geblieben, dann kam Matthias und blieb von fünf bis zehn.

Eine Mindestmenge von 50 bis 60 Frühgeborenen pro Perinatalzentrum der maximalen Versorgungsstufe („Level I“) würde bedeuten, dass die Anzahl der entsprechenden Zentren von aktuell 163 auf rund 41 sinken würde. Damit könnten laut der Studie einerseits jährlich zwischen 25 und 40 Todesfälle vermieden werden. Andererseits würden sich die maximalen Anfahrtswege etwa verdoppeln (rechnerisch von 47 auf 93 Kilometer). In den Ballungszentren würde sich durch die Reduzierung wenig bis nichts an den Anfahrtswegen verändern. In sechs Bundesländern gäbe es durch die Reduzierung der Standorte (nach dem heutigen Stand) überhaupt kein Perinatalzentrum mehr.

Stefanie hat während dieser Zeit oft erlebt, dass Schwangere mit vorzeitigen Wehen ins Klinikum eingeliefert wurden – diese Frühgeburten waren nicht absehbar. Deshalb waren die Frauen nicht im Vorfeld über die Leistungen von Perinatalzentren informiert und fuhren eben ins nächstgelegene Krankenhaus. Ihrer Einschätzung nach würde die Zeit für eine Fahrt in ein durchschnittlich 90 Kilometer entferntes Krankenhaus dann nicht mehr reichen.

Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig:

„Wenn man die Mütter befragt, würden die allermeisten von ihnen einen längeren Anfahrtsweg in Kauf nehmen, wenn dafür die Chance ihres Kindes, gesund und ohne Behinderung zu überleben, verbessert würde. Statt die in Deutschland übergroße Zahl kleiner, ineffizienter Perinatalzentren zu erhalten, wäre es also sinnvoll, das Geld lieber für flankierende Maßnahmen für die Familien auszugeben, die ihr Leben auf die neue Situation einstellen müssen, dass eines ihrer Kinder als Frühgeborenes in einem weiter entfernten Krankenhaus liegt. Durch die Krankenkassen finanzierte Unterbringungsmöglichkeiten für die Mütter vor Ort sind dabei genauso wichtig wie Haushaltshilfen, die die Versorgung der Geschwisterkinder daheim sicherstellen. An dieser Stelle gibt es noch viel Verbesserungspotenzial.“

Würde die Mindestmengenregelung auf die von den Wissenschaftlern geforderte Zahl angehoben, wäre Anna in einem Münchner Klinikum geboren und betreut worden – rund 90 Kilometer entfernt. “Diese Strecke hätte ich nicht jeden Tag fahren können, da hätte ich die ganze Zeit über stationär dort bleiben müssen”, ist sich Stefanie sicher. Matthias sagt, er wäre trotz der Distanz jeden Tag hingefahren. Eine ausreichende Begründung für eine Ablehnung der Forderung ist dieser Umstand für das Paar aber nicht.

Anna wurde in der 37. Woche, nach zwei Monaten, mit 2400 Gramm Gewicht entlassen. Der Krankenhausaufenthalt von Mutter und Kind nach der Entbindung kann Tage, Wochen oder Monate dauern. Als Faustregel gilt, dass Frühchen meist um den errechneten Geburtstermin herum entlassen werden können. Künftig muss also ein Kompromiss zwischen Qualität und Erreichbarkeit eines Perinatalzentrums gefunden werden, der alle relevanten Faktoren berücksichtigt.